Liminal verrückt

 

Die Teile 1-8 des Blogs bilden die Grundlage dieses Textes.

(Das Titel-Bild hat der Künstler Jorge Lopes zur Verfügung gestellt.)

 

Die existentiellen Unsicherheiten und Ängste von Liminalphasen sind das größte Problem in Übergangszeiten. Das Unfertige, Unbeantwortbare, Undefinierbare ist kaum auszuhalten. Die Anti-Regeln tradierter Übergangsrituale geben diesem Grauen oft eine Form, indem sie es gezielt übersteigern. Du kannst vor Angst nicht schlafen? Dann verordnen wir dir Schlafentzug bis du halluzinierst! Du kriegst vor Sorge keinen Bissen runter? Nun, dann fastest du eben, bis dich Visionen heimsuchen! Der Schmerz zerreißt dich? Dann sollst du ihn so erleben, dass du ausrastest!

 

Schamanische Initiationen etwa sind bekannte Beispiele dafür, Menschen an den Rand des Wahnsinns und darüber hinaus zu bringen. Verrückt ist ein Alltagswort. Unsere Sprache ist treffsicher: Menschen in Krisen erleben Verrücktheit. Das normale Leben ist ver-rückt, an seine Stelle ist ein vollkommen „unnormales“ Erleben getreten. Tradierte Rituale fangen das auf, in dem sie der Verrücktheit ihren geregelten Platz geben, ein bewusstes Ventil schaffen, darin sogar einen Sinn sehen (etwa eine visionäre Wegweisung zu finden).

 

An Verrücktheiten herrscht derzeit kein Mangel. Aber es mangelt an Formen, mit ihnen umzugehen. Die Angstüberfluteten finden sich in der Parallelwelt des Internets und stecken einander „viral“ mit der Panik immer weiter an. Die Suche nach einfachen Antworten auf außerordentlich komplexe Probleme lässt intelligente Menschen nach abwegig dummen Erklärungen greifen. Und plötzlich scheint die Angst besiegt zu sein, alles ist plausibel. Wir anderen werden „aufgeklärt“, in dem wir Videos über Videos (meistens kommentarlos) erhalten. Diskussionen helfen nicht, denn das Problem ist zutiefst emotional, nicht intellektuell. Auch Stempel wie „krank“ oder „psychotisch“ helfen nicht, sie nehmen die Angst nicht ernst und mindern sie nicht im geringsten.

 

Wir brauchen echte Spezialisten für Angstreduktion! Wo sind also Psychiater, die das 1:1 Setting und geschlossene Gruppenräume verlassen und helfen, dass wir in dieser verrückte Zeit nicht alle durchdrehen?

 

 

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